Die Strasse ist öffentlicher Raum und somit eigentlich kollektives Eigentum. Doch wie sieht dies in der Realität aus? In diesem Artikel hinterfragt der Landschaftsgärtner und Koch Maurice Maggi die bestehenden Verhältnisse und denkt über neue Nutzungsmöglichkeiten und -hierarchien im öffentlichen Strassenraum nach. Maurice Maggi *
Wer erinnert sich noch an die unsäglichen Tafeln mit der Aufschrift «Rasen betreten verboten», die bis in die 1970er-Jahre hinein verbreitet waren? Gehorsam liefen wir auf den geteerten Wegen und blickten ins unantastbare Grün. «Nur schauen und ja nicht benutzen» wurde damals ohne Aufmucken akzeptiert. Diese zwinglianische Haltung von Nüchternheit und Abgrenzung hat sich seither zum Glück in vielen Dingen geändert. Heute werden die öffentlichen Pärke und Grünflächen von der Bevölkerung intensiv genutzt. Überhaupt scheint mir, dass die Menschen vermehrt Begegnungsorte im öffentlichen Raum suchen und dass sich die moderne Gesellschaft in eine Richtung entwickelt, die eine neue Nutzungshierarchie des öffentlichen (Strassen-)Raums erfordert. Darum zurück zur Frage: «Wem gehört die Strasse?» Die traditionelle und leider häufig nach wie vor aktuelle Sichtweise ist klar, die Strasse gehört dem Auto. Es gilt das Recht des Stärkeren, und in diesem Sinne ist die Regelung geradezu archaisch.
Prioritäten aus den 1950er-Jahren
Wie kam es so weit? In den 1950er-Jahren wurde die private Mobilität allen zugänglich und zum Stolz der damaligen Gesellschaft. Die Planung der «autogerechten Stadt» diente als Leitbild für die Gestaltung des urbanen Raumes der Nachkriegszeit. Damit wurden einseitige Privilegien und Prioritäten geschaffen, die im Prinzip auch heute noch gelten. Wir nehmen diese überlieferte Hierarchie zu einem guten Teil immer noch als gegeben an. Nach ihrem Verständnis gehört die Strasse dem Verkehr, insbesondere dem motorisierten Verkehr, weil in einer Hackordnung von rohem Kräftemessen der Stärkere gewinnt.
Vortritt den Schwächeren
Ich denke (und vertrete die Vision), dass das Vorrecht und der Vortritt den Schwächeren gehören sollte. In meinen vier Jahren in New York konnte ich eine solche «Vorrangsordnung» sowohl als Fussgänger als auch als Autofahrer erleben. Sie funktioniert bestens, und das mit sehr wenigen Sonderregelungen. Respekt und das Vorrecht für die schwächeren Strassenbenutzer und -benutzerinnen ermöglichen einen aggressionsfreien und rücksichtsvollen Verkehr, weil eine solche Haltung eine defensive und angepasste Fahrweise bewirkt. Ob als Kind, Fussgängerin oder Fahrradfahrer – man fühlt sich sicher. Als ich New York diesen Winter wieder besuchte, war ich erstaunt, wie gut neue Fahrradwege die Stadt vernetzen. Sie wurden mit einer diskussionslosen Konsequenz umgesetzt und sind oft sogar mit Grünstreifen vom übrigen Verkehr getrennt. New Yorks Erfolgsrezept lässt sich in sieben konkreten Ansätzen für eine nachhaltige Stadtentwicklung zusammenfassen («Von New York lernen», Susanne Lehmann-Reupert):
1. Qualifizierung des öffentlichen Raums
2. Sukzessive Verbesserung des öffentlichen Personennahverkehrs durch ein schlüssiges Mobilitätskonzept, Anreize für Fahrradnutzung
3. Neue und verbesserte Erholungs- und Freiflächen im Zusammenspiel mit der Renaturierung von Freiflächen
4. Kurze Wege durch Siedlungsstrukturen mit Funktionsmischung: Wohnen, Arbeiten, Erholung und Freizeit, Versorgung, Dienstleistungen sowie soziale Einrichtungen
5. Lokale Nahrungsmittelproduktion durch die Förderung von Farmen in der Stadt und in der näheren Umgebung
6. Anreizsystem zum energieeffizienten Umrüsten von bestehenden Gebäuden und Neubauten
7. Förderung und Einbeziehung von bürgerschaftlichem Engagement in die Stadtentwicklung
Die Entschleunigung des Verkehrs war einer der Beweggründe für meine wilden Ansaaten im Strassenraum. Ich will intimere Räume schaffen, die durch ihre kulissenartige Pflanzenskulptur die Strassen unübersichtlicher machen und dadurch verkehrsberuhigend wirken. Im Gegensatz dazu entlarvt der heute verwendete Fachbegriff «Verkehrsbegleitgrün» die bei uns geltenden Hierarchien und die vorherrschende Denkweise. Unsere modernen Städte verloren ihre Aura, weil Plätze und Promenaden daraus verschwunden sind. Denn solche Orte ermöglichen Begegnung und Kommunikation und erfüllen somit eine elementare Funktion in einer lebenswerten Stadt. Je mehr und je länger sich Menschen im öffentlichen Raum aufhalten, desto mehr Aktivitäten und Kontakte kommen zustande. Der Strassenraum muss wieder zum Freizeitzentrum und Schönwetter-Wohnzimmer werden. In kühnen Visionen sehe ich bereits Strassen und Städte, in denen den Schwächsten Vortritt und Vorrecht gewährt wird. Aber wie soll ein Kind, getrimmt darauf, immer den Zebrastreifen zu benutzen, plötzlich begreifen, dass es überall in den Tempo-30-Zonen Vortritt hat? Müssten wir in diesen Zonen etwa flächendeckend Zebrastreifen aufmalen?
Guerilla Gardening
So oder so soll der Strassenraum umgestaltet werden. Meine Blumen wuchern aus seinen Nischen und Lücken, erfreuen Vorbeigehende und lassen die Strasse in einem neuen Licht erscheinen. Achtsame Menschen, die diesen Raum neu für sich entdecken, sind nicht selten auch rücksichtsvolle und nachhaltig handelnde Menschen. Selten genutzte und versiegelte Flächen sind für die spontan wachsende Vegetation zu öffnen. Kandelaber eignen sich als Klettergerüste für Schlingpflanzen. Werden Bäume etwas versetzt gepflanzt, so verschwinden die Strassenschluchten (in Quartieren dürfen es auch Nuss- oder Obstbäume sein). Eine begrünte Strasse wirkt intimer und privater, und dies entschleunigt den Verkehr. Durch einen Garten fahren alle langsamer, weil mit Überraschungen zu rechnen ist! Begrünungen spenden Sauerstoff, vernetzen Kleinbiotope untereinander und bilden damit einen ausgedehnten Lebensraum für Insekten und Schmetterlinge. So sind unsere Bahn- und Autobahnböschungen ein europaweit vernetztes Biotop – ein Bewegungskorridor für Flora und Fauna, geschützt vor Haustieren und Menschen. Städtisches Grün blüht länger wegen spätem Rückschnitt und liefert Nektar für domestizierte Bienen und deren Wildarten. Mehr Grün wirkt sich positiv auf das Mikroklima aus und tut unserem Gemüt gut. In diesem Sinne hoffe ich, dass der Strassenraum vermehrt lustvoll «bespielt» und damit die dominante Beherrschung durch den motorisierten Verkehr aufgebrochen wird: Mehr Autonomie im Strassenraum, das wünsche ich mir.
* Der Landschaftsgärtner und Koch Maurice Maggi stellt immer wieder die bestehenden Besitzverhältnisse auf der Strasse in Frage – sei es mit Begrünungsaktionen von Nischen und Freiräumen, in Referaten oder hier im Rahmen dieses Artikels. Im März 2014 publizierte er das Kochbuch «Die essbare Stadt».