Winterthur ist eine beispielhafte «Stadt der kurzen Wege». Seit gut sechzehn Jahren lebe ich in der autofreien Altstadt und schätze diesen Ort sehr. Ich kann mir kaum vorstellen, wie es hier früher war, als es noch Strassen, Verkehrslärm, Parkplätze und Trottoirs gab.
Das Modell der autofreien (Innen-)Stadt wird immer wieder als utopisch, geschäftsschädigend und als kaum umsetzbar angesehen. Vor allem bürgerliche Parteien und Gewerbeverbände setzen sich regelmässig gegen solche Vorhaben ein. Die Angst vor dem «Verlust der Freiheit» ist gross – doch geht wirklich etwas verloren?
In Winterthur befindet sich die grösste zusammenhängende Fussgängerzone der Schweiz. Seit 1987 bietet die Altstadt mit ihren vielen Bewohnern, Geschäften, Strassencafés, den Möglichkeiten zum Flanieren, Verweilen, den Brunnen, die zum Bade einladen, und den vielen zufriedenen Menschen einen ganz besonderen Lebensraum. Die (Gross-)Stadt beweist seit Jahren, dass die autofreie Innenstadt realisierbar ist und viele Vorteile bietet.
Die SVP bekämpfte die Initiative selbst nach ihrer Annahme mit aller Vehemenz. Argumentiert wurde hauptsächlich mit der Benachteiligung der Gewerbetreibenden aufgrund sinkender Umsätze, dem erschwerten Gütertransport und dem sich einstellenden Parkplatzsuchverkehr. Die Angstmacherei hat nicht funktioniert. 1987 wurde die Initiative umgesetzt. Allerdings wurde damals die Durchfahrt durch den Neumarktplatz ausgeklammert. Dieser wurde erst 1996 dem Sperrzonen-Regime unterstellt.
Autofrei ist nicht gleich autofrei
Wer annimmt, in einer autofreien Innenstadt seien Autos absolut verboten, täuscht sich. Einerseits gibt es, in der Regel morgens bis elf Uhr, Anlieferungen für Geschäfte. Nicht selten befahren grosse LKWs die Fussgängerzone. Auch Handwerker*innen und Anwohnende, die etwas Unhandliches transportieren müssen, sind immer wieder mal mit dem Auto unterwegs. Täglich sieht man die Paketpost, selten die Feuerwehr (zum Glück in der Regel übungshalber), die Ambulanz oder die Polizei. Doch selbst Letztere ist immer öfter auf dem Velo anzutreffen. Vor meiner Wohnung fahren täglich etwa zehn Autos – meistens im Schritttempo – vorbei. Was schnell auffällt, sind der generelle Respekt und die Toleranz zwischen Fussgänger*innen, Velofahrer*innen und Autofahrenden.
Vom Rattern der Putzmaschine am frühen Morgen bis zum lautstarken Planschen inklusive Gejohle mitten in der Nacht durch Badende in den Brunnen auf der Gasse ist alles möglich. Zweimal in der Woche ist Markt und von Frühling bis Herbst vierzehntäglich Flohmarkt. Hinzu kommen diverse Feste und Anlässe – bezüglich der akustischen Belastung stehen die Musikfestwochen mit Abstand auf Platz eins. Wer in der Altstadt lebt, braucht eine hohe Lärmtoleranz. Und doch, Lärm ist eben nicht gleich Lärm. Sobald man zur stark befahrenen Technikumstrasse wechselt, wird einem schlagartig bewusst, dass der Lärm von Autos und Lastwagen eine ganz andere Belastung darstellt.
Gut für das Gewerbe
«Autofreie Städte sind schlecht für’s Geschäft. Da die Kunden nicht in unmittelbarer Umgebung parkieren können, kaufen sie woanders ein.» Das ist ein Hauptargument der Gegner autofreier (Innen-)Städte. Rückfragen beim Gewerbe in der Winterthurer Altstadt haben aber ergeben, dass niemand zurück zum alten Verkehrsregime möchte. So meint der Geschäftsführer der Winterthurer City-Vereinigung Junge Altstadt auf die Frage, ob die Winterthurer Altstadt wieder für den Verkehr geöffnet werden solle: «Auf gar keinen Fall. Die Zuständigen der Stadt stellen sogar zu viele Bewilligungen zum Befahren der Altstadt aus.» Als «nicht so toll» bezeichnet er Velofahrende, die sich nicht an Fahrverbote halten. Aber damit müsse man wohl einfach leben (es gibt einige Bereiche mit Fahrradfahrverbot, dieses gilt aber nicht für das ganze Altstadtgebiet, Anm. d. Red.). Für Tourismus Winterthur ist die autofreie Altstadt «ein Segen». Ein Zurück schlicht unvorstellbar.
Immer mehr Menschen in Städten leben ganz ohne Auto. Und trotzdem wird diesem immer noch ein grosser Teil des öffentlichen Raums zur Verfügung gestellt. Dass sich ein beherztes Engagement für ein autofreies Leben lohnt, hat die Winterthurer Bevölkerung erfolgreich bewiesen. Es ist dringend notwendig, dass sich mehr Menschen für eine lebenswerte Zukunft mit weniger Verkehr engagieren. Mit der Initiative «Züri autofrei» gibt es in Zürich aktuell eine Möglichkeit. Den Gegnern solcher Initiativen sei nahegelegt, der grössten zusammenhängenden Fussgängerzone der Schweiz doch mal einen Besuch abzustatten, sich vor Ort ein Bild zu machen, mit Betroffenen das Gespräch zu suchen und ihre Ängste abzubauen. Es genügt, sich einfach in eines der vielen Strassencafés zu setzen und die wunderbare Atmosphäre zu geniessen. Für die ganz Mutigen gibt es sogar die Möglichkeit, dass sie ihr erhitztes Gemüt in einem der drei Badebrunnen abkühlen. Ein Getränk kann dann direkt vom Brunnen aus in der benachbarten Bar bestellt werden. Was will man mehr?!